Solidarität darf parteiisch sein

Mittwoch, 1. Januar 2020

Solidarität hat stets mehrere Aspekte. Die kleine Solidarität der einzelnen Menschen gegenüber anderen Menschen gründet in Mitgefühl und Mitleid. Sie äussert sich in Barmherzigkeit und mündet in direkter Hilfe. Oft ist sie zudem von moralischen Appellen geprägt und von Werten wie z.B. im Juden- und Christentum dem Gebot der Nächstenliebe.

Anders die grosse Solidarität der Gesellschaft: Sie verwirklicht sich in den Einrichtungen der sozialen Sicherheit. Der Sozialstaat oder genauer der soziale Rechtsstaat ist das Resultat rationaler Überlegungen und politischer Entscheide. Er lässt den moralischen Appell weit hinter sich. Dabei rechnen die Menschen meist mit Erwiderung, mit Gegenseitigkeit, im Sinne von „wir helfen euch, auf dass später auch uns geholfen wird“.

Entscheidend sind dabei die sogenannten Durchschnittwählenden. Wenn diese erreicht und gewonnen werden, kann die soziale Sicherheit entsprechend neu- oder umgestaltet werden. In der Schweiz lässt sich dies an der Altersvorsorge trefflich illustrieren. Massstab sollte bei der grossen Solidarität die soziale Gerechtigkeit sein, auch wenn dies kein wissenschaftlich einhellig definierbarer Begriff ist. Andernfalls wird das System durch einen moralisierenden Gestus überfordert, z.B. wenn Menschen oder bestimmten Gruppen pauschal Schuld für Armut oder Krankheit zugeschoben wird oder z.B. die Vorsorgefähigkeit der Betroffenen ausser Acht gelassen wird.

Gruppenegoismen und Parteilichkeit können nur begrenzt werden, wenn übergeordnete Werte wie das Gemeinwohl und die Möglichkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft beachtet werden. Strukturellen sozialen Herausforderungen soll mit Sozialversicherungen und nicht mit privaten Almosen wie Suppenküchen begegnet werden. In der Schweiz haben sich z.B. zur Bekämpfung der Altersarmut die Ergänzungsleistungen zur AHV bewährt.

Philantropisches Engagement hat seinen Platz in der kleinen Solidarität und hier uneingeschränkt, was die Definition der Nutzniessenden, den Umfang der Hilfe, den allenfalls damit verbundenen Bedingungen usw. Sie ist naturgemäss parteiisch. Ich erlebe dies bei mir selber, wenn ich mich entscheide, welchem Hilfswerk ich Spenden zukommen lassen will. Durch den Entscheid für End Polio Now reduziere ich beispielsweise meine mögliche Hilfe für mine-ex oder für anderes. Dies ist in Ordnung so, da meine Mittel beschränkt sind. Der einen sind die Kinder, die von der Kinderlähmung bewahrt werden, dem anderen die Minenopfer in Kambodscha wichtig. Parteilichkeit ist in diesem Kontext kein Makel.

Rot. Dr. Erwin Carigiet 

Rot. Dr. Erwin Carigiet leitet Soziales und Fundraising beim RC Zürich City